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ÜBER DIE TIEFE

 

Ulrike Wolff-Thomsen

 

Die Gemälde des in Husum gebürtigen, in Hamburg lebenden Malers Jochen Hein (geb. 1960) geben dem vor Jahrzehnten postulierten Verdikt, die Malerei habe sich mit den neuen Bildmedien überlebt, der Lächerlichkeit preis. Drei große Werkkomplexe beweisen das Gegenteil, seien es Heins meisterlich gemalte, lebensgroße Porträts von Zeitgenossen, die aus einem schwarzen Nichts aufzutauchen scheinen, seien es die wirklichkeitsnahen Ansichten vom Meer, seien es seine Landschaftsbilder und Grasstücke. Die Motive sind in der Gegenwart verortet und doch erheben sie sich über die Tiefe von Raum und Zeit. Der Betrachter sieht die Oberfläche der Meere, mal kochend und tosend, mal so beruhigt, dass Sonnenstrahlen spiegelnde Glanzlichter setzen. Doch Heins Urbilder verwandeln sich in der Nahbetrachtung in ein Rätsel, in unlesbare Spuren delikater Abstraktion. Dass wir tatsächlich nicht erkennen, was uns so vertraut und bedeutungsvoll erscheint, spiegelt die Spannung, die zwischen Erwartung und Wirklichkeit liegt, und macht seine Arbeit so tief. 

     

Besonders seine monumentalen Bildformate, das Triptychon „Nordsee“ und die „American Star“, scheinen wie Ausschnitte der Wirklichkeit, und doch demonstrieren sie dem Betrachter, der sich immer wieder auf ein Näher- und Zurücktreten an die Bildoberflächen einlässt, dass die Malerei eigenen Gesetzmäßigkeiten folgt und uns gleichsam einem Vexierspiel aussetzt. Wir sind fasziniert, überwältigt und werden angestoßen, über Fragen der Wahrnehmung und des eigenen Seins nachzudenken. Dabei beschreitet Hein ganz eigene und neue Wege in der Malerei, um Bildkörper und Abbild der Welt miteinander zu verbinden. Es ist nicht nur die Frage nach Motivwahl und malerischen Mitteln, sondern die Beschäftigung mit überzeitlichen Fragestellungen, die Hein antreibt.

MEER

Jochen Heins Bilder sind oftmals eine Rückbesinnung auf die eigene Kindheit – Erinnerungen an den Husumer Schlosspark, an die Marsch, die Nordsee, an vertraute Menschen. Das Meer bildet dabei ein überragendes Thema und unerschöpfliches Bildmotiv. Der vom Künstler gewählte Ausstellungstitel „Über die Tiefe“ rekurriert auf Theodor Storms berühmtes Gedicht „Meeresstrand“ – eine realistische Naturbetrachtung, einmündend in die letzte Zeile: „Noch einmal schauert leise Und schweiget dann der Wind; Vernehmlich werden die Stimmen, Die über der Tiefe sind.“ Was Hein und Storm verbindet, ist auf emotionaler Ebene die Sehnsucht nach einem Herkunftsort, nach einem Ort der Vertrautheit und auf künstlerischer Ebene eine detailgenaue und zugleich individuelle, subjektive Wahrnehmung der Wirklichkeit. Während Storm die nordfriesischen Inseln mit Träumen vergleicht, entwirft Hein realistische und – was sich zunächst wie ein Widerspruch anhört – fiktive Bildwelten. Beide Künstler fordern eine hohe Anteilnahme und Einbindung des Lesers bzw. des Betrachters ein. Hein erhebt dabei einen allumfassenden Anspruch – über die Tiefe von Raum und Zeit. 

Einen weiteren Anknüpfungspunkt bietet ein Stück Malerei, das Gemälde „Blanker Hans“2 des ebenfalls aus Nordfriesland stammenden Malers Hans Peter Feddersen (1848–1941), das Hein bereits als Schüler im Husumer Nissenhaus (heute NordseeMuseum) fasziniert hat. Hans Peter Feddersen hat mit seiner Malerei einer neuen Wirklichkeitsaneignung den Weg geebnet und in den 1870er Jahren der heimatlichen, unprätentiösen Natur Bildwürde verliehen.3 In „Blanker Hans“ sieht sich der Betrachter, ohne dass sein Standort verortet werden kann, unmittelbar mit aufeinandertreffenden Wellen und unterschiedlichen Strömungsverläufen der aufgewühlten, stürmischen See konfrontiert. Lichtströme bringen eine breite Skala an Meeresfarben hervor. Nur ein schmaler oberer Bildstreifen ist der dunkelblauen Himmelszone vorbehalten. An diese Auseinandersetzung knüpft die Ausstellung „Jenseits der Zeit – Jochen Hein und die Sammlung Kunst der Westküste“ an. Heins Gemälde kommunizieren mit den Werken der „alten“ Meister, mit Gemälden von Johann Christian Dahl (1788–1857), Peder Severin Krøyer (1851–1909), Piet Mondrian (1872–1944), Hans Peter Feddersen, Max Liebermann (1847–1935), Max Beckmann (1884–1950) und Frits Thaulow (1847–1906) u.a..

In Jochen Heins Seestücken bleibt der Mensch außen vor – weder Bildfiguren noch Zeugnisse zivilisatorischer Eingriffe treten in Erscheinung. Und doch ist der Betrachter mitten drin, oder besser: Heins Wahrnehmung vermittelt uns das Gefühl der Partizipation, indem wir mit Vertrautem angesprochen werden.     

 

Hein hat in diesem Sujet gleich „groß“ angefangen. Sein monumentales, 2003 geschaffenes Triptychon „Nordsee“ (1,45 x 5,40 m) zwingt den Betrachter, den Blick stetig über das aufgewühlte Meer schweifen zu lassen. Es gibt keinen Halt, keinen Fixpunkt. Selbst ein Betrachterstandort lässt sich nicht bestimmen – irgendwo in der Luft und doch in direkter Meeresnähe schweben wir gleich einem Vogel und lassen den Blick – von ausgeklügelter Lichtregie gelenkt – in schräger Aufsicht auf die unruhige, zigfache Lichtreflexe spiegelnde  Wasseroberfläche schweifen. Es gibt keine Sicherheit durch ein nahes Ufer oder einen Ort am fernen Horizont. Dem Himmel kommt nur – wie in Feddersens Gemälde – ein sehr schmaler oberer Bildstreifen zu, dessen Farbigkeit mit derjenigen des Wassers übereinstimmt. Der Betrachter bleibt allein; er vermag nicht die Oberfläche zu durchdringen und in die Tiefe zu blicken. Das breite Bildpanorama verlangt ihm eine direkte und unmittelbare Auseinandersetzung mit dem Urelement Meer ab, eine Auseinandersetzung, der er sich nicht zu entziehen vermag. Weder künstlerisch noch inhaltlich. Es ist vermeintlich ein Verzicht auf Narration – zumindest auf eine bildimmanente Erzählung. Doch die angebotenen Oberflächen, das Erkennen von hinlänglich Vertrautem, lösen beim Betrachter Handlungen und Überlegungen, ein Befragen und Überdenken bisheriger Gewissheiten aus. Was verbirgt das Meer, welche Geheimnisse besitzt es? Was erkennen wir, wenn überhaupt? Ist es noch tiefer, als wir zu ahnen glauben? Welche Rolle spielen wir oder welche maßen wir uns angesichts einer solchen Urgewalt an? Das Gemälde spiegelt Heins große Ehrfurcht vor der alle Zeiten überdauernden Natur, oder wie es Storm lapidar formuliert, vor dem „So war es immer schon“. Der Künstler möchte verstehen, „wie wir durch das Licht die Oberfläche der Welt wahrnehmen und was uns das alles bedeuten soll“.4 Er hat ein säkulares Triptychon aus drei gleichgroßen Bildern geschaffen, dessen Komposition sich über das gesamte Format erstreckt und zugleich über die Bildfeldgrenzen hinauszuweisen scheint.   

     

Heins Gemälde, die im ersten Moment nach akkurat ausgeführter Malerei aussehen, sind nach intensiver Vorbereitung des Malgrundes vielfach in einem spontanen, willkürlichen kreativen Akt vollendet worden. Hervorgerufen durch eine Schleuderbewegung der Hand spritzen Farbkleckse aus dem satten Pinsel auf die Leinwand, die auf dem Boden liegt. „Die genauere Position der einzelnen Farbspritzer, die sich im Gesamtgefüge der Komposition in Lichtpunkte verwandeln, entzieht sich dadurch den Steuerungsmöglichkeiten des Künstlers – der Zufall ist demzufolge als Akteur am Entstehungsprozess des Bildes beteiligt.“5 Dem Pinsel, nicht dem Malen, kommt Autorität zu. Der Malakt entwickelt eine Eigendynamik und Eigengesetzlichkeit – Jochen Hein spricht von „Unfällen“, von denen er oftmals selbst nicht weiß, wie diese eingetreten sind und die ein auch ihn überraschendes Ergebnis zeitigen: „Die Schöpfung wäre ohne Mutation erledigt.“ Ähnlich agierte der schwedische Schriftsteller und Maler August Strindberg (1849–1912), der in seinen Seestücken, beruhend auf seiner Theorie der „automatischen Kunst“, nicht die Naturwirklichkeit, sondern die kreative Leistung der Natur in einem von „Zufällen“ begleiteten Malprozess nachzuahmen suchte.6 Hein handelt dabei „neue Möglichkeiten der Malerei“ aus. „Die Kombination von Lasuren flüssiger Acrylfarbe und plastischen Untergründen, Auf- und Abtragen der Farbe mit allen möglichen Mitteln und Selbstüberlistung macht es zu meiner Malerei.“7

In kleinformatigen Werken spielt der Künstler die breite Varianz bewegter Meeresoberflächen durch, das unerschöpfliche Repertoire des Zusammenspiels von Wind, Wellen und Licht. Mal ist es die durch Sonnenreflexion spiegelnde Oberfläche, verführerisch schön, anziehend und geheimnisvoll, zum Andächtig-Sein einladend, mal das aufgewühlte, tosende, brausende, kochende Meer, das Urängste freisetzen kann. Hein führt den Betrachter aufs Meer hinaus. Es gibt keinen Schutzraum mehr, keinen Rückzugsort, sondern nur mehr das direkte und unmittelbare Konfrontiertwerden mit dem Urelement. Nur selten verschiebt sich die Horizontlinie in die untere Bildhälfte. In der Regel bleibt sie einem sehr schmalen oberen Bildstreifen vorbehalten. Gerne arbeitet Hein auch in Serien – derselbe Meeresausschnitt wird in unterschiedlichen tageszeitlichen Lichtverhältnissen und Witterungsbedingtheiten dargestellt. Markus Bertsch macht richtigerweise darauf aufmerksam, dass ein einzelnes Seestück eine höchst abstrakte Anmutung haben kann und dass erst im Gleichmaß der Serie ein „Urbild“ ableitbar wird. „Es verdankt sich einzig und allein der Macht der Projektion, die uns bei einer Wandhängung aller Werke dieser Serie als Seestücke identifizieren lässt – wir sind in die Falle getappt, sind unserer Assoziationsfähigkeit wie auch unserem Projektionsvermögen erlegen. So erweist sich Heins zunächst eher unscheinbar anmutende Serie als subtiler Kommentar zur Wirkweise unserer Bildwahrnehmung. Und zugleich lotet der Künstler mit „abstrakt“ und „gegenständlich“ damit die beiden Pole aus, die seine facetten- und variantenreiche Beschäftigung mit der Gattung des Seestücks von Anfang an bedingt haben.“8  

Ein singuläres Motiv in Heins Œuvre sind die ‚Porträts‘ des Schiffes ‚American Star‘. Die Bildidee geht auf ein frühes Kindheitserlebnis zurück, auf das Betrachten eines großen Trawlers, der in einer Werft zum Abwracken aufgeslipt lag und dessen rostiger Rumpf an Land in Untersicht umso mächtiger aufragte: ein imposanter, von vielen Menschen produzierter Metallkomplex vor seiner unabwendbaren Zerstörung. Diese faszinierende Oberfläche und Materialität mit all ihren haptischen Qualitäten galt es auf die Leinwand zu übertragen. Den Werkprozess begleitete das Experimentieren mit Rost, um nicht nur dem Motiv adäquatesten Ausdruck zu verleihen, sondern ebenso durch die Materialität die Eigenschaft des Verfalls faktisch in das Bild einzubringen. Hein, der sich bewusst ist, in einer langen Tradition künstlerischer Überlieferungen zu stehen, die immer wieder Innovationen hervorgebracht hat, fordert sich, ganz neue malerische Lösungen anzubieten. „Und zufrieden bin ich erst in dem Moment, in dem ich nicht mehr weiß, wie ich etwas hinbekommen habe.“9 Da es letztlich um die immer selben Ur-Fragen zu unserem Dasein geht, ist es für den Künstler elementar, die eigene Stimme zu erheben. 

PORTRÄT

Der Betrachter wird mit einem Gegenüber konfrontiert, mit einer Bildfigur, die er kennt oder zu kennen glaubt. Sie tritt ihm „lebenswahr“ und in realer Lebensgröße entgegen, mit allen äußerlichen Stärken und Schwächen, die das Alter in die Oberfläche, in die Haut oder das Haar eines Menschen einzuschreiben vermag. Die Bildfigur richtet oftmals den Blick auf den Betrachter, fordert ihn auf: „Schau, hier bin ich!“ Aus schwarzem, bildfüllendem Umraum, aus nächtlicher Dunkelheit, aus einem imaginären Bildraum treten sie hervor, oder ist es doch nur schwarze Fläche? Wohl kaum, denn das Schwarz besitzt zugleich stoffliche Qualität und Volumen. Von zentraler Bedeutung ist die Positionierung des Porträtierten auf der schwarzen Leinwandfläche, die vorgeben könnte, ein in Dunkelheit getauchter Bühnenraum zu sein. Die Bildfiguren selbst erobern die dritte Dimension, schälen sich körperlich, fast haptisch heraus und scheinen die imaginäre Grenze zwischen Bild- und Betrachterraum zu durchdringen. Nur Kopf und Hände tauchen aus dem „Nichts“ auf. Eine hohe Bildspannung wird erzeugt. Trotz eindrucksvoller Präsenz könnte die Person ebenso schnell wieder verschwinden. Verzichtet wird auf jegliche Andeutung von Kleidung, um Aussagen über zeitliche und soziale Dispositionen zu unterbinden und um zusätzlich die Konzentration auf den Porträtierten zu erhöhen. Das Schlaglicht fällt von links oben auf die Bildfigur und lässt ihr Antlitz aufleuchten. Der Betrachter wird einem Vexierspiel ausgesetzt: Mal fokussiert er den Dargestellten aus der Nähe, mal aus der Distanz und ist fast versucht, dessen Lebensähnlichkeit mit „Kratzen an der Oberfläche“ zu überprüfen. Die Setzung von Figur und Raum bleibt ambivalent – einerseits versagt das Schwarz der Bildfigur den Körper, betont aber die Strenge des Ausdrucks, spricht ihr Bedeutung zu und verleiht ihr Würde, andererseits löst die Choreografie Fragen nach dem Verhältnis von Mensch und Welt aus, nach der Endlichkeit der eigenen Person und der Überzeitlichkeit des Raums, aber auch nach der Bedeutung von Malerei. „Die Körperlichkeit des Bildes, die Illusion des Dargestellten, der Umgang mit Raum, der Raum des Bildkörpers und der Raum der Vision – wenn ich das gegeneinander ausspiele, dann ist es hochgerüstet. Und dann ist es auch verführerisch. Und merkwürdig – dann erzeugt es sein eigenes Geheimnis.“10 Wichtig ist es Hein, das einzelne Porträt und den jeweiligen Porträtierten nicht isoliert zu betrachten, sondern die Bildnisse, die im identischen Format mit den Maßen von 1,80 x 1,30 m geschaffen wurden, als ein Gesamtwerk zu lesen, in dem die Dargestellten untereinander sowie mit dem Künstler und dem Betrachter in Beziehung treten. Hein betont ihr Gegenwärtig-Sein – gerade im Wissen um die zeitliche Begrenztheit menschlichen Lebens. Es scheint zu trösten, dass die Werke bleiben: „Ich leiste Widerstand, ich stelle mich dem Unabwendbaren, ich stelle mich meinem lächerlichen Wunsch nach Unsterblichkeit.“11 Hein bezeichnet sie alle als „Selbstporträts“, vermitteln sie uns doch ausschließlich seine visuelle Vorstellung des Gegenübers.12  

     

Gerade das Porträt als künstlerische Aufgabe verlangt eine intensive Auseinandersetzung mit der Tradition der europäischen Malerei, die früh hohe Maßstäbe gesetzt hat. Der schwarze Bildgrund und die Konzentration auf Antlitz und Hände führen in die Anfänge der europäischen Malerei der Neuzeit zurück, in die Zeit der sog. Alten Niederländer, die um 1420 mit einer revolutionär neuen Wirklichkeitsaneignung den Menschen in seiner ganzen Individualität zu erfassen vermochten. Nur beispielhaft stehen hierfür das Porträt „Der Goldschmied Jan de Leeuw“13 von Jan van Eyck (vor 1390–1441) oder Bildnisse von Robert Campin (um 1370–1444). Auch wenn es sich nicht um Ölmalerei handelt, die von Hein praktizierte Maltechnik setzt die im 15. Jahrhundert entwickelten Methoden voraus – das Vorbereiten des Malgrundes, sei es Jute, Leinwand oder Holz, mit in dünnen Farbschichten immer wieder aufgebrachten Grundierungen und Lasuren. Eine ausgereifte, höchst komplexe und eigenständige Technik, die erst die Illusion eines Gegenübers entstehen lässt. „Selbst die Illusion ist eine Illusion“ – wie Hein treffend formuliert.14 Selbstredend setzt er auch moderne Medien ein: Um einen ganz bestimmten Ausdruck einzufangen, fotografiert er seine Modelle, zumeist Familienmitglieder oder enge Freunde, vor einem schwarzen Tuch und vermisst anschließend ihre Kopfgröße, Kopf-, Ohren- und Nasenlänge, Pupillenabstand sowie die Ohrenhöhe. Mit dem Computer simuliert der Künstler die Positionierung im Bildraum, Stand- bzw. Sitzposition stets 20 cm unterhalb der unteren Bildkante. Die Vorzeichnung von Gesicht und Händen wird auf weißer Grundierung ausgeführt, um im weiteren malerischen Prozess diesen Partien die größtmögliche Leuchtkraft im Umraum des Schwarz zu verleihen. Kein Schwarz gleicht dem anderen – der tiefe, satte Farbraum wird aus vielen Schichten warmer und kalter Töne entwickelt. Bei Hein kommen Malmaterialien zum Einsatz, die der Betrachter angesichts der feinmalerischen Wirkung der Porträts nicht erwarten würde: breite Borstenpinsel, Spritzpistole, Schleifpapier, seine Finger und Rasierklingen u.a. „Dieser aufwendige Prozess ist nicht Selbstzweck, sondern die Bedingung für die von mir angestrebte Balance zwischen einer bestimmten Materialität und dem konkreten Motiv.“15 Am Ende des Malprozesses, dem ein jahrzehntelanges Aushandeln künstlerischer Modi vorausgegangen ist, schafft Heins eminentes Können die Voraussetzung für die einzigartige Lebendigkeit dieser Porträts.        

     

Einen weiteren Anknüpfungspunkt bietet die italienische Malerei des 16. Jahrhunderts, insbesondere das dramatische Hell-Dunkel-Spiel von Michelangelo Merisi, gen. Caravaggio (1573–1610). Der italienische Künstler lenkt den Betrachterblick nicht in die Tiefe des Raums, sondern scheint ihn nach vorn zu weiten, mit der Folge, dass sich der Betrachter ins Bild gezogen fühlt. Hein ist demgegenüber nicht an einer Mystifizierung des Raums gelegen, sondern an dessen Fokussierung. Er wählt hierfür ein Licht, das den Betrachter auf Abstand hält. In der Regel verleihen die Gesten ihren Bildfiguren eher Schutz, öffnen sich nicht dem Gegenüber, laden ihn nicht ein, sondern sind ganz selbstverständlicher Teil der Person. Die ausschließliche Konzentration auf das, was zu uns spricht, nämlich Gesicht und Hände, verleiht diesen Bildern eine ganz eigene, psychologische Kategorie. Das Abbild schiebt sich damit vor die Wahrnehmung des Bildes als solches. Der Betrachter ist einem Wechselspiel von Nähe und Distanz ausgesetzt, fühlt sich vom Gegenüber angezogen, ist gefesselt von dessen Körperlichkeit und der Exaktheit der Wiedergabe von Hautporen, Wimpern oder Bartwuchs, kann aber der Bildfigur emotional nicht wirklich nähertreten.   

     

Für Hein ist das eine große künstlerische Herausforderung, aber auch ein persönliches Sich-Stellen vergangener und gegenwärtiger Zeit. „Ich möchte die Zeit anhalten, aus der Zeit herausfallen“16 – so der Künstler in einem Interview. Doch es ist nicht allein ein Anhalten, sondern ein „Festhalten“ der Zeit, ein Bewahrenwollen von Überliefertem einerseits und andererseits ein produktives Schaffen, das über die eigene Endlichkeit hinausgreift.  

     

Der Gattung „Porträt“ darf wohl auch das Haarstück zugeordnet werden, dem bislang in der Kunstgesichte keine Klassifizierung zugesprochen wurde. Hein verleiht dem Motiv „Haar“ autonome Bildwürde. Gibt es hierfür ikonografische Vorbilder? In der vorgebrachten Konsequenz: nein! Der ausschließliche Fokus auf die Haare eines Menschen, ohne dessen Träger zu zeigen, ist meines Erachtens vorbildlos. Adolph Menzel (1815–1905), der große Realist des 19. Jahrhunderts, gewährt eine Aufsicht auf die wilde Haarmähne eines Mannes, dessen Gesicht unterzutauchen scheint. Die Bleistiftzeichnung „Studie eines Männerkopfs“17  führt im Weiteren zu einer abstrakten Verselbständigung von Linien im Bildraum. Hein hingegen wählt einen engen Bildausschnitt und fokussiert in der Regel langes, gesundes Haar, das zu einem Schopf oder Knoten gebunden wurde. Ihn reizt die überfordernde, verwirrende Komplexität der Substanz, ihre Undurchdringbarkeit und hohe sinnliche Qualität. Die Oberflächen der Strähnen leuchten gleichsam von innen heraus. Mit dem vollständigen Verzicht auf den Träger wird das Motiv entpersonalisiert, ja objektiviert, ohne Verlust an visuellem Reiz. Im ersten Moment wird der Eindruck vermittelt, wir könnten mikroskopisch einzelne Strähnen betrachten, doch in Nahsicht zerfällt die erzeugte Illusion. Kulturgeschichtlich werden Haarlocken als Zeichen der Erinnerung aufbewahrt. Haare, empfindungslos, unterliegen einem anderen Verwesungsprozess und wachsen selbst noch um einige Millimeter, wenn der Körper bereits tot ist. Damit berührt das zeitlose, immer gültige Motiv auch existentielle Fragen und konfrontiert uns mit unserer eigenen Endlichkeit. 

In seinem dritten Themenfeld „Grasstück“ knüpft Jochen Hein an ein Motiv an, dem Albrecht Dürer (1471–1528) bereits 1503 autonome Bildwürde verliehen hat.18 Beide Künstler präsentieren einen vermeintlichen Wirklichkeitsausschnitt, der über die Bildfeldgrenzen hinaus vorstellbar ist. Heins „Grasstück“ ruft in uns eine Kindheitserinnerung wach: Die saftig grüne Sommerwiese, durchsetzt mit Wiesenblüten, erweckt den Eindruck, als habe jemand zuvor auf ihr gelegen und die Halme und Blütenstängel seien im Begriff, sich wieder aufzurichten. Das Licht trifft nicht gleichmäßig auf, sondern verteilt helle Lichtflächen auf einzelne Partien. Erneut wird der Betrachter einem Vexierspiel ausgesetzt – aus gewisser Distanz beeindruckt die Detailgenauigkeit, bei näherem Herantreten irritieren die nun auftretenden Abstraktionen – im Widerspruch zur Wahrnehmung in der Lebenswirklichkeit. Einerseits entzaubert Hein die Illusion, andererseits entwirft er neue Bildwirklichkeiten. „Diese Oberfläche neu zu schaffen, aufzuladen, die Rätsel einzuschreiben, die uns umgeben – das ist die Essenz meiner Arbeit.“19  

     

LANDSCHAFT

Heins Landschaften, oftmals menschenleere Parks, spiegeln auf den ersten Blick romantische Idyllen – nicht die Urnatur, sondern geformte Orte, an denen der Mensch ein Landschaftsideal zu verwirklichen sucht. Er gestaltet jedoch weder reale Abbilder nach, noch greift er auf Fotografien zurück, sondern erschafft seine eigenen Landschaftsräume mit großem malerischen Gestus: eigene „Sehnsuchtsorte“. Es ist oftmals eine ideelle Rückbesinnung auf den 1878 durch den Hamburger Gartenarchitekten Rudolf Jürgens (1850–1930) gestalteten Husumer Schlosspark mit seinen großen, ausladenden Bäumen, der schwingenden Wegeführung und weiten Rasenflächen, ein öffentlicher Raum, den Hein für sich und nur für sich reservieren und konservieren möchte. Es ist ein gefühlter, exklusiv privater Rückzugsort, ein Teil seiner Identität.20 Dem Maler gelingt es nun, dieses Gefühl gleichsam zu materialisieren, es sichtbar und glaubhaft zu machen. Und der Betrachter fühlt sich an vermeintlich Vertrautes erinnert und verbindet die eigene Geschichte mit dem Wahrgenommenen. Nicht ungewöhnlich, wenn man einen Teil des Obstgartens der eigenen Großeltern zu erkennen glaubt. Heins Bildwelten rufen mithin Verschüttet-Geglaubtes ins Bewusstsein zurück und schenken dem Betrachter die Illusion erfüllter Illusion. Dies ist der erste Blick. Je näher wir hingegen an den Malträger herantreten, umso mehr geht die erzeugte Illusion verloren. Dies führt nicht zu einer Desillusionierung, sondern in künstlerischer Hinsicht zu einer Sensibilisierung und Bewusstwerdung malerischer Qualität und Präsenz. „Die Oberfläche ist für mich zentral, denn für mich sind alle Rätsel in die Oberfläche der Welt eingeschrieben. Alle Erwartungen werden davon erweckt und enttäuscht“ – so konstatiert Jochen Hein. Für ihn persönlich bleibt es aber ein ernüchternder, entmutigender Moment zu erkennen, dass seine Beziehung zur Natur ohne Resonanz bleibt, ja banal gesprochen, den Bäumen menschliches Empfinden egal ist und sie anderen Zeitläufen folgen. „Das Entsetzliche an der Natur ist denn auch nicht etwa ihre vielzitierte Grausamkeit, sondern vielmehr ihre totale Gleichgültigkeit.“21   

     

Beeindruckend sind ebenso die kleinformatigen, auf Büttenpapier geschaffenen Arbeiten von der Alkersumer Marsch, die „Ferring Sessions“, die während seines Aufenthalts als „artist in residence“ auf Föhr entstanden sind. Was feinmalerisch und zudem monochrom anmutet, sind Abdrücke eines breiten Borstenpinsels, der zuvor in grün-braune Farbe getaucht wurde. Vorrangig greift Hein Motive der norddeutschen Landschaft auf, zu der symbiotisch Nebel und Dämmerung gehören, immer unter Verzicht auf Mensch und Tier – antiarkadische Bildwelten, denen schon mit gänzlich anderer inhaltlicher Ausrichtung Caspar David Friedrich (1774–1840) eine besondere Wertigkeit zugesprochen hat. Heins Bilder vermitteln das Gefühl romantischer Stimmungslandschaften, rekurrieren auf Stormsche Sentenzen wie „Und Dämm’rung bricht herein; Über die feuchten Watten Spiegelt der Abendschein“ und sind zugleich in der Imagination heraufbeschworene Urbilder, visuelle Erinnerungen ohne Rückgriff auf Fotografien. Ein „Dahinter“ ist für den Atheisten Hein nicht vorstellbar – tröstend ist es vielleicht, dass der Künstler seine Landschaften dennoch als „neue, aufgeklärte Andachtsbilder“ versteht.

     

Die Serie „Großes Gehege“ verweigert die kategorische Trennung zwischen abbildhafter Darstellung und autonomer Abstraktion. Hein gewährt uns eine Ahnung von Gegenständlichkeit, hervorgerufen durch Wischungen auf rauem Untergrund – es entsteht der Eindruck, als würde der Betrachter von einem schnell fahrenden Auto oder Zug aus die Landschaft wahrnehmen. Der deutsche Impressionist Max Liebermann reklamierte für sein Werk die „mitwirkende Phantasietätigkeit des Beschauers“22 – und ebenso ist der Betrachter der Werke Jochen Heins versucht, die Abstraktion ins Gegenständliche zurückzuführen, gleichsam durch das Bild auf die fiktive, aber real begriffene Landschaft wieder zurückzublicken. Beide Zugänge – abstrakt und figurativ – sind gleichberechtigte Möglichkeiten der künstlerischen Aneignung von Wirklichkeit. 

 

Die zweite Ausstellung mit dem Titel „Jenseits der Zeit – Jochen Hein und die Sammlung Kunst der Westküste“ weist überzeitliche Verbindungslinien zwischen den Werken der „alten“ Meister und Heins aktuellen Arbeiten aus. Der Künstler hat sich während seines Föhr-Aufenthalts intensiv mit den Werken von Liebermann, Feddersen und Beckmann beschäftigt, hat sich auf eine Auseinandersetzung eingelassen, die sich selten auf ein Bild in seiner Gesamtheit bezog. Es waren eher Details oder Teilbereiche, die Heins Interesse geweckt haben. So beispielsweise in Karl Leipolds Werk „Vergänglichkeit“23 der Grauschleier, der eine mystisch-neblige Atmosphäre erzeugt, oder in Hans Peter Feddersens Gemälden „Wattenmeer“24 und „Aus den Lister Dünen“25 die maltechnischen Lösungen, schwer Darstellbares wie Luft und Licht zu visualisieren. Auch die atmosphärischen Bedingungen bei Einbruch der Dämmerung in den Ölstudien „Skagens Südstrand“26 und „Himmelsstudie“27 von Peder Severin Krøyer oder das dramatische Zusammenspiel von Wind und Wasser bei Sturm, wie es in den Werken „Schiffswrack an der Küste Finnmarks“28 von Johann Christian Dahl und „Stürmische Fjordlandschaft im Mondschein“29 von Gustav Boenisch meisterlich demonstriert wird, fanden Heins Aufmerksamkeit. Aber neben dem Aushandeln künstlerischer Modi besitzt eine noch größere Relevanz der über die Arbeiten kommunizierte Dialog der Künstler, die sich den überzeitlichen existentiellen Fragen immer wieder neu gestellt haben und stellen. „Die Frage nach dem Sinn unseres Daseins zerrt in einer Weise an uns, dass die Möglichkeit, dass es tatsächlich nur eine Frage, nur eine Forderung ist, es zu dieser aber keine Antwort und Erfüllung gibt, kaum jemand erträgt“ – so Jochen Hein.

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